Willi Wolf

 

Seit Willi Wolfs Frau Susl vor einem Jahr gestorben ist, lebt er, einundneunzigjährig, allein und zurückgezogen in seiner kleinen Zweizimmerwohnung eines in den neunzehnhundertfünfziger Jahren gebauten Mehrfamilienhauses am Rand der Stadt. Er hat gerade Kartoffelbrei mit Fischstäbchen gegessen, jetzt sitzt er im Wohnzimmer, guckt Fußball und wundert sich, dass der Kommentator des Fußballspiels versucht, den deutschen Nachnamen des französischen Nationalspielers französisch auszusprechen. Warum nur, fragt sich Willi Wolf, spricht der Kommentator diesen deutschen Familiennamen denn nicht einfach deutsch aus? So klingt das doch wirklich albern.

Schließlich hat Willi Wolf genug, er macht das Fernsehgerät aus, steht auf und humpelt ins Bad. Den französischen Namen eines Deutschen, dessen Vorfahren aus Frankreich stammen, denkt er, sprechen hier doch auch alle französisch aus. Lafontaine zum Beispiel, oder de Maizière. Dann humpelt er ins Schlafzimmer. Er stellt die Pantoffeln vor das Nachttischschränkchen, zieht den Schlafanzug an und legt sich ins Bett.

Am nächsten Morgen verlässt er zeitig die Wohnung. Er pflückt vor dem Haus eine Chrysantheme, steckt sie vorsichtig in die Innentasche seines Mantels, knöpft den Mantel zu und humpelt zur Sparkasse.

Wenig später hat Willi Wolf seinen Dauerauftrag zur Überweisung des Rundfunkbeitrages gelöscht. Er ist ein bisschen stolz auf sich, dass er den Automaten noch selbst bedienen kann, andere in seinem Alter können das nicht mehr.

Obwohl es ja gar nicht mehr so viele in meinem Alter gibt, denkt er, als er die Sparkasse verlassen hat. Der Wind weht ihm kalt ins Gesicht; er zieht seine Mütze etwas tiefer über die Ohren und humpelt ohne Eile zum Friedhof.

Willi Wolf ist gern auf dem Friedhof, vor allem der Ruhe wegen, aber auch, weil er hier gelegentlich mit Menschen ins Gespräch kommt. Vor Susls Grab bleibt er stehen.

Er knöpft die oberen Knöpfe seines Mantels auf, greift in die Innentasche und zieht die gepflückte Chrysantheme vorsichtig heraus. Ich habe dir ein Gedicht geschrieben, Susl, sagt er mit brüchiger Stimme, es heißt: Die Chrysantheme bei uns daheeme. Er schmunzelt über den Titel seines Gedichtes, dann legt er die Chrysantheme auf das Grab und sagt das Gedicht auf: Susl, stell dir mal vor, / man nehme dem Humor / die Heiterkeit / … oder dem Besteck / das Messer weg. / Oder man nehme / einer Chrysantheme / all ihre Knospen / oder dem Osten / den Sonnenaufgang / … oder gar der Zeit / die Vergänglichkeit. / Oder man nehme / der Chrysantheme / all ihre Blüten / oder Prototypen / die Ypsilons weg / … oder noch krasser: / dem Meer das Wasser. / Oder man nehme / einer Chrysantheme / all ihre Blätter / oder dem Wetter / den Sonnenschein. / So fühle ich mich, / Susl, ohne dich.

Willi Wolf versucht zu lächeln. Aber Tränen rollen über seine Wangen. Und weil er nicht möchte, dass Susl ihn weinen sieht, wischt er sich die Tränen eilig aus dem Gesicht.

So steht er noch eine Weile vor Susls Grab. Als es zu regnen beginnt, verabschiedet er sich von ihr und humpelt nach Hause.