Still it was very uncomfortable, and, as there seemed to be no sort of chance of her ever getting out of the room again, no wonder she felt unhappy.
Lewis Caroll, Alices Adventures in Wonderland
Natürlich habe ich es gelesen, es lag ja zwischen meinen Büchern, zwischen Carroll und Grass, zwischen Alice im Wunderland und Blechtrommel.
Den Carroll, zerlesen und abgegriffen, habe ich von einer Engländerin bekommen, für einen Lonely Planet und eine Avocado.
Den Grass hat mir Bruno geschenkt. Zugegeben, er ist mein Trost nicht geworden und könnte mein Glaube nicht sein; Strichmännchen habe ich in den Einband gekritzelt, mit dem Fingernagel Buchstaben aus ... aber ich schweife ab.
Zurück zum Tagebuch, Richards Tagebuch.
Mein Bruder Richard.
Ich habe es also gelesen, habe in Erinnerungen geblättert, habe lose Gedanken reflektiert, habe die Vergangenheit durch die Nacht getragen, habe ...
Habe Bruno gefragt – mit seinen zerknitterten Ringeröhrchen hat er gewackelt –, ob es nicht vielleicht wichtig, ja unerlässlich sei, sie zu sortieren, zu veranschaulichen, zu interpretieren, diese Erinnerungen, diese losen Gedanken.
Und er, was macht er, Bruno?
Kauft mir in einer Schreibwarenhandlung fünfhundert Blatt unschuldiges Papier, reißt den Packen auf, zählt zehn Blatt ab und legt den Rest in mein Nachttischchen, reicht mir einen Füllfederhalter.
Mehr Anstoß bedarf es nicht, beschreibe ich sie also, diese unschuldigen, mich tugendhaft beschmeichelnden, so gelehrigen Blätter, mögen sie Richards Erinnerungen tragen, wie die Frau die Frucht, wie der Tag den Sonnenschein, wie der ...
Gott, was für wirre Gedanken. So kann man sich doch nicht treiben lassen.
Nein, ich muss mich zur Seriosität zwingen, zur Besonnenheit ermahnen.
Also gut, fange ich an.
Oder halt. Lasse ich der Gegenwart – der dinglichen, der unverschleierten – den Vortritt, lasse ich sie vorangehen, folge ich ihr auf leisen Sohlen.
Der Reiher
Richard hat die letzten Äpfel gepflückt, das Laub geharkt und den Rasen noch einmal gemäht.
Er setzt sich auf die alte Holzbank neben der Walnuss, sieht in den Teich und zählt Fische. Die Katze der Nachbarin schleicht auf samtigen Pfoten geräuschlos durch den Garten, bläulich schimmernde Raben sitzen laut krächzend in den Bäumen.
Ostwind, denkt Richard.
Er hält Ausschau nach dem Reiher, der manchmal über Feld und Grundstück kreist. Er summt so vor sich hin, sieht gedankenverloren zu, wie die goldbraunen Blätter der Walnuss zu Boden und aufs Wasser fallen.
»Summst du den Fischen was vor?«
»Leo, na, alles klar?«, fragt Richard, aus den in welken Blättern schwebenden Gedanken gerissen. »Wie war’s in der Schule?«
»Von der Schmidt«, sagt Leo. Er gibt seinem Vater einen Brief, setzt sich zu ihm auf die Bank.
Die Schmidt – Dr. Jutta Schmidt, Schulleiterin am Friedrich-Schiller-Gymnasium – kennt der Vater schon länger, als ihm lieb ist. Sie war seine Klassenlehrerin. Damals. In der DDR. An der Polytechnischen Oberschule Ernst Thälmann.
»Die Schmidt, die Schmidt«, raunt Richard. Er zieht einen Zettel aus dem Umschlag, entfaltet ihn und liest leise vor: »Sehr geehrte Familie Busch, da Leo wiederholt negativ im Schulbetrieb aufgefallen ist, bitte ich Sie am Donnerstag, den 11. Oktober um 18 Uhr, in Raum 8 des Friedrich-Schiller-Gymnasiums zu einem Elterngespräch. Dr. Jutta Schmidt.«
»Ich bin überhaupt nicht wiederholt aufgefallen«, sagt der Junge. »Ich bin einmal zu spät gekommen. Und als sie mich gefragt hat, warum, da hab ich gesagt, dass ich einer alten Omi noch über die Straße helfen musste. Das war alles.«
»Soso, einer alten Omi«, nickt Richard und zeigt auf den Teich. »Ich glaube, der Reiher holt unsere Fische.«
»Der Reiher?«
»Der Reiher.«
September 1983
Dr. Schmidt hatte gelocktes, dunkelblondes Haar und kleine Füße. Ihr Kopf war rund, die Nase spitz. Saß sie hinter dem Lehrertisch, wirkte sie beinahe sportlich.
Natürlich hatte sich Richard die erste Deutschstunde bei seiner neuen Klassenlehrerin anders vorgestellt ...